„Die Menschen, die dort am Bahnhof standen, sahen anders aus . . . Obwohl die Grenze seit fünfundzwanzig Jahren keine Grenze mehr war“. Der Triebwagenführer fährt aus Sachsen-Anhalt Richtung Westen. Er ist einer der Vagabunden, deren Geschichte Clemens Meyer in seinem Buch Die stillen Trabanten mit feinem Faden zu einem dichten Stoff verwebt. Immer breiten die zwölf Geschichten, die größtenteils aus der Ich-Perspektive erzählt werden, ein ganzes Leben aus. Mal knapp, wenn sich die Arbeiterin der Bahnreinigung an das Gespräch mit der Kontrollkommission erinnert. Dann wiederum zoomt Meyer so nah ran, dass der Abdruck des Maschendrahtzauns im Gesicht spürbar wird, an den sich der Wachmann lehnt, weil er auf die Frau aus dem Wohnheim wartet. Die Kirschkerne, die bei der Reinigung vergessen wurden, die Vergeblichkeit des Wartens am Zaun, das schwarz glänzende Brikett im Regal der Witwe, die Söhne und Mann durch den Staub der Kohle verliert, sind Verdichtungen der Traurigkeit zwischen Plattenbauten in Trabantenstädten.
Immer wieder taucht blitzlichtartig das Bild von Frauen und Männern auf, die aus dem Fenster blicken, gestützt auf verblichene Kissen in der Fensterbank. Sie warten auf etwas, das nicht kommt.
Aus Meyers erstem Erzählband Die Nacht, die Lichter sind uns die großen Lebensthemen vertraut: Einsamkeit, sozialer Abstieg, Krankheit, Alter, Tod, verlorene Freundschaften, komplizierte Familienverhältnisse, Sehnsucht nach Kindheit und Heimat, unerfüllte Liebe. In dieser geballten Form ziemlich schwere Kost. Wer sorgenfrei in geordneten Verhältnissen lebt, hat Mühe, sich direkt einzufühlen. Zu fern die eigene Realität und zu bruchstückhaft die Schilderungen, um auf Anhieb einen Zugang zu finden. Je mehr wir uns jedoch einlassen, desto eher gelingt es, in dem zusammen gefegten Scherbenhaufen eine Botschaft zu erkennen.
Herunter gekommene Gestalten stehen in abgewetzten Mänteln mit speckigen Schiebermützen auf dampfenden Bahnsteigen in der Dämmerung und der Himmel leuchtet rot glühend über Plattenbauten und öden Straßen. Manche Figuren, die wir aus Meyers Büchern kennen, treffen wir wieder. Er ist diesen Menschen begegnet.
Gebannt werden wir selbst zum entwurzelten Streuner an kalten, unveränderlichen Orten
Meyer hat die Gabe, den schrecklichsten, banalsten, unbelebten Dingen dieser Welt eine unbändige Leuchtkraft zu verleihen. Plötzlich fühlen wir uns weich und verletzlich, neben einem bloßen Betonmülleimer, der seltsam unantastbar vor „Objekt 95“ steht. Die Geschichten sind von großer Intensität, bildgewaltig, mit Tempo voran getrieben, tragisch, todtraurig, tief bewegend, aber nie sentimental.
Meyer entwirft mit wenigen, hochpoetischen Worten expressive Bilder. Seine Charakterdarstellungen und Situationsbeschreibungen sind zwar schonungslos, jedoch nie bewertend. Auf schmerzhafte Weise seziert Meyer die Risse, die unsere Gesellschaft spalten. Ihn interessieren die Brüche im Leben durch Kriege und Wiedervereinigung. Nicht zuletzt deshalb, weil Meyer, 1977 in Halle geboren und aufgewachsen in Leipzig, mit diesen Brüchen lebt. Selten flimmert in einer Biografie Hoffnung auf oder gar Glück. Wenn der alte Jockey in der Flughafenbegegnung einen Freund findet, hoffen wir bis zum Schluss der Erzählung, dass sie ein gutes Ende nähme.
Clemens Meyer ist ein politischer Dichter. Er beendet Die stillen Trabanten mit der Geschichte des Arbeiterschriftstellers Willi Bredel und dessen Werk über Klaus Störtebeker, den Piraten und Robin Hood der Hanse. Der Legende nach ging Störtebeker in die ärmlichen Hütten der Fischer, wusste, wie sie lebten und kämpfte für ihre Rechte. Am Ende ist Meyer selbst mit seinen Geschichten ein Störtebeker der Postmoderne.
Clemens Meyer: Die stillen Trabanten. S. Fischer, 2017. 272 Seiten.