Nebenstränge einer Rezension oder „Geister und Taugenichtse im Gespräch“
[ i. ]„Ihr Verrat beruht auf Irrtum,
wenn sie glauben, ich sei wie ihr verwirrtes
Gestammel. Der Schutt ihrer Berichte macht mich gereizt.[…]
Meine Poetik ist,
wenn ich eine habe, die Gereiztheit; Geister und Taugenichtse
im Gespräch. Ein wirres Gemisch aus Rätsel und Stumpfsinn.“(Berlin Hamlet; 26. [Fragment VI]; [ii])
Wenn vorhin von einer „moralischen Herausforderung“ die Rede war, so hat das folgenden Grund: Der Gedichtband ,Berlin Hamlet‘ (inklusive ,Leichenprunk‘ und ,Nebenstränge eines Verbrechens‘) enthält einige Texte, die ihre Leser_innen förmlich dazu drängen, sich zu ihnen in gewissermaßen moralischer Hinsicht zu positionieren.
[ ii. ]Da wäre beispielsweise ein Moment in dem prosaartigen Gedicht ,Tiergarten II‘, Abschnitt , ,v.‘, in dem das lyrische Ich sich im Anblick einer Prostituierten ergeht. Die Art, wie dies geschieht, ließe sich wohl am besten unter der Bezeichnung „Male Gaze“ zusammenfassen. Was sich zusätzlich als problematisch erweist, ist die Tatsache, dass es sich um eine Schwarze Prostituierte handelt. Ob die Betrachtungen des Körpers einer weißen Frau anders ausgefallen wären, ist schwer zu sagen. Jedenfalls wird der weibliche Körper hier radikal objektifiziert und wie ein Gegenstand oder etwas „Unbeseeltes“ dargestellt. Ein ungutes Gefühl beim Lesen hinterlassen diese Zeilen somit allemal.
[ iii. ]„Ihre schwarz-gelbe Haut leuchtete förmlich. Das Licht blitzte auf ihr. Sie trug eine kurze Lederjacke, aus der ihre Brüste hervorquollen. Die knallrote kurze Hose bedeckte ganz und gar nicht die gewaltigen Schenkel.“140. Tiergarten II., v.; Berlin Hamlet
Kaum noch erträglich wird es dann aber im Gedicht ,Auf den Flügeln der Freiheit‘. Dieses befindet sich im Zweiten Buch des Zyklus‘ ,Leichenprunk‘, das den Titel ,Sequenzen von Amor und Psyche‘ trägt. Wie Heike Flemming im Nachwort erklärt, bemühte sich Borbély um eine Neuinterpretation der antiken Geschichte von Amor und Psyche.2Ich erlaube mir an dieser Stelle, keine weiteren Erklärungen zu Inhalt und Herkunft der Geschichte zu liefern. Letztere werden dafür im Verlauf der nächsten Seiten folgen Hier stoßen wir also auf folgende ziemlich verstörende Verse:
„Es war ihre eigene Sehnsucht, mit der er sie ins Netz
des Schmetterlingsfängers lockte. Ihr Körper, der
sich jenseits des Körpers wünschte. Sie genoss,
dass ein Unbekannter sie vergewaltigen konnte,denn in dem Moment war ihr Körper ein Objekt. Sie
litt wie ein Tier. Doch ihre Seele war frei. Sie spürte,
dem Körper war es förmlich ein Genuss zu sterben,
wenn ihre Seele wie die Puppe war. ,Wer bist du?‘
fragte Psyche. ,Bastard! Halt einfach den Mund
und schweig, wenn ich dich ficke!‘ antwortete er.
[…]“
Das dürfte ein Schlag ins lesende Gesicht, wenigstens aller weiblichen* Leserinnen sowie Opfer sexueller Gewalt, sein. Vermutlich wäre dies der beste Zeitpunkt, das Buch einfach wegzulegen, vielleicht gleich in die Altpapiertonne, oder falls Recycling einen fast schon zu wohlwollender Akt darstellt, sonstwas damit anzustellen. Zumindest würde man gerne gewisse Label darauf kleben, gleich mehrfach und in Großbuchstaben. Das Problem hierbei ist: so leicht macht es Borbély einem dann eben doch nicht. Allerdings bedarf es schon recht sonderbarer intellektueller, respektive moralischer Verrenkungen, um dem Gelesenen annähernd beizukommen.
* Damit sind alle Personen gemeint, die sich als “weiblich” empfinden.
Im Folgenden soll ein derartiger Versuch gedanklicher (und auch Gewissens-) Akrobatik trotzdem unternommen werden. Dies geschieht weder als Rechtfertigung des Textes, noch mit der Absicht einen „Verriss“ zu verfassen, sondern eher in der tastenden Geste des Auseinanderklamüserns von Worten und ihrem Sinn (bzw. Unsinn). Es handelt sich dabei vor allem um eine Geste in Richtung potenzieller Leser_innen, die sich zu diesem Gedicht vielleicht eine Erklärung oder immerhin einen Kommentar gewünscht hätten, ein bisschen was zum Wieso-Warum-Weshalb und wie das jetzt gemeint ist/sein könnte. (Etwaiges werden sie im Buch selbst leider vergeblich suchen.)
[ iv. ](Hintergrund und Zwischengrund)
Die antike Erzählung ,Amor und Psyche‘, auf die sich Borbélys Gedicht ,Auf den Flügeln der Freiheit‘ bezieht, hat ihre Wurzel in einem griechischen Mythos. Verbreitung fand sie jedoch hauptsächlich in Form eines Märchens mit demselben Titel, verfasst vom römischen Schriftsteller Apuleius im 2. Jahrhundert.3Die Erzählung ,Amor und Psyche‘ findet sich in Apuleius „Metamorphosen“.; vgl.: de.wikipedia.org/wiki/Amor_und_Psyche; Stand: 31.01.2020 Es handelt von der Liebesbeziehung einer Sterblichen mit dem Gott der Liebe. Durch seine Geschicke gelangt Psyche, jene Sterbliche, in den Palast Amors, wo sie fortan in nocturnaler Gegenwart des Gottes leben wird. (Welche Umstände sie dorthin führen, soll später erläutert werden.) Nocturnal, das bedeutet: Amor kommt, sobald Psyche sich schlafen legt und verlässt sie, ehe der Morgen graut. Wenn Psyche nun Nacht für Nacht von dem in der Dunkelheit unsichtbaren Amor „heimgesucht“ wird4Vgl. ebd., sich auf diese Weise – Stockholm-Syndrom sei Dank – letztlich sogar in Selbigen verliebt, so ist die Bezeichnung „Vergewaltigung“, im Sinne eines Nur-Ja-heißt-Ja, doch recht naheliegend. Soll heißen: Wenn sich Amor ungefragt ins Bett der eventuell sogar schon schlafenden Psyche stiehlt, um sich über sie herzumachen, dann heißt das natürlich nicht Ja und ist insofern als Vergewaltigung zu betrachten.
Tatsächlich könnte eine derartige Sicht auf die Geschichte auch unter feministischen Gesichtspunkten ähnlich ausfallen. Was Borbély betrifft, lässt sich ein feministischer Zusammenhang allerdings eher bezweifeln. Die Annahme der Vergewaltigung Psyches durch Amor bleibt dennoch eine durchaus plausible (moderne) Lesart. Bis hierhin wäre es möglich Borbély zu folgen. (Danach wird es schwieriger bis unmöglich.)
Das wahrscheinlich problematischste Element des Gedichts ist zweifellos das Genießen der Vergewaltigung.
Wie gesagt, Psyche verliebt sich in Amor und scheint somit auch dem Beischlaf mit dem Liebesgott (wenigstens ab einem gewissen Zeitpunkt) nicht allzu abgeneigt. Wäre dies ein juristischer Fall, man hätte es wohl mit einer Grauzone zutun. Absurde Fragen drängen auf Antwort: Wo fängt die Vergewaltigung an und wo hört sie auf? Ist sie es noch, in dem Augenblick, in dem Psyche genießt? Ist dieser Genuss bereits eine Einwilligung, die ihrerseits die Vergewaltigung aufhebt und aus ihr einen quasi „ordnungsgemäßen Beischlaf“ macht? Schließt das Wort „Vergewaltigung“ das Wort „Genuss“ nicht im Prinzip von vornherein aus? Was ist dann aber mit masochistischem Genuss? Ist Psyche eine Masochistin?
Der Satz „Sie / litt wie ein Tier.“ zeigt zumindest an, dass es sich Borbélys Interpretation nach nicht um einen sonderlich ordnungsgemäßen, geschweige denn sanften Beischlaf handeln dürfte. Warum Psyche (von Masochismus abgesehen) 5Ironie mitlesen! diesen nun trotzdem genießt, ist laut Borbély die Tatsache, dass ihr Körper in diesem Moment zum „Objekt“ wird. Also, wie bereits in dem Gedicht ,Tiergarten II.‘: der weibliche Körper als Objekt? Und das soll jetzt genossen werden?
Das Problem ist, einerseits wird Psyche durch ihre Erscheinung in weiblicher Gestalt automatisch eine weibliche Identität zugeordnet, wodurch dieses Gedicht im Umkehrschluss ja gerade seinen enorm frauenfeindlichen Charakter erhält. Andererseits ist Psyche, wie fast jede Figur antiker Mythologie, mehr denn als Mensch (oder Gestalt ihres Auftretens), eine Metapher. Psyche steht für die menschliche Psyche, bzw. die Seele6Vgl. Bernd Nitzschke; Zeit Online; 8. November 1991; zeit.de/1991/46/als-amor-psyche-noch-umarmte; Strand: 26.01.202 (von der sich aller Wahrscheinlichkeit nach behaupten lässt, dass sie kein Geschlecht hat).
Ein kleiner Exkurs: Das Wort „Psyche“ bedeutet im Altgriechischen „Atem“ oder „Hauch“7de.wiktionary.org/wiki/Psyche; Stand: 31.01.2020. und wird synonym für die Seele des Menschen gebraucht. Übrigens bezeichnet es auch den „Schmetterling“8de.wikipedia.org/wiki/Schmetterlinge#Herkunft_des_Namens; Stand: 26.01.2020., der in der griechischen9Das Märchen von Amor und Psyche wurde zwar von einem römischen Autor verfasst, geht aber auf die griechische Mythologie zurück. Mythologie die Seele symbolisiert.10„Im antiken Griechenland war ψυχή Psyche die Bezeichnung für den Schmetterling, denn die Imagines wurden als die Seelen der Toten angesehen. Die Puppe wurde νεκύδαλλο genannt, was „Hülle des Toten“ bedeutet. In der griechischen und römischen Mythologie erscheint die Seele oft mit Schmetterlingsflügeln. Vom Tod erlöst, kann die Seele sich von ihrer Hülle entfernen und sich frei in die Höhe erheben.“ de.wikipedia.org/wiki/Schmetterlinge#Mythologische_Bedeutung; Stand: 31.01.2020 / Bernd Nitzschke verweist allerdings auf den Vogel als Symbol der Seele (s. Anmerkungen zu 10) In Werken der Bildenden Kunst wird Psyche daher oftmals mit Schmetterlingsflügeln oder Schmetterling auf der Hand gezeigt.11vollmer-mythologie.de/psyche/; Stand: 31.01.2020 Auch Borbélys Gedicht bedient sich dieser Metaphorik: der Schmetterling, der sich entpuppt und seine tote Hülle zurücklässt.12Vgl. 16
In seinem Essay ‚Als Amor Psyche noch umarmte – Über Seelenheil und Seelenleid im Abendland einige Neuerscheinungen zur Psychoanalyse‘ 13Vgl. 12(Zeit Online,8. November 1991), beschreibt der Psychoanalytiker und Historiker Bernd Nitzschke die antike Vorstellung der Seele folgendermaßen:
„[…] ein geflügeltes, flatterhaftes Wesen, das seine Freiheit
vorübergehend verliert, wenn es im Körper gefangen ist. Der Tod des Körpers bedeutet
dann die erneute Freisetzung der Seele.“
Bezieht man dies auf Borbelys Gedicht, so stößt man zum wiederholten Male auf das ständig wiederkehrende Motiv des „Verschwindenlassen[s] des Körpers“14Tiergarten II., ii., Berlin Hamlet: „Warum nur interessiert mich das Verschwindenlassen des Körpers?“. Das Verschwindenlassen von Psyches Körper kann demnach als ihre Befreiung gedeutet werden. Diese Befreiung ist es, die sie mit Borbély anscheinend ersehnt und deren „Vollzug“ sie genießt.
In der Tat dürfte Psyche ihren Körper insofern als Last empfinden, als von ihm ihre „überirdische“15Vgl. 9Schönheit ausgeht. Psyche ist laut Märchen so schön, dass, wer ihr begegnet, niederkniet und sie anbetet. Doch deshalb ist sie auch einsam und findet keinen Mann (als Frau keinen Mann zu finden war in der Antike vermutlich gleichbedeutend mit Einsamkeit).16Mythen: Amor und Psyche; Video der ARD-alpha mit Erklärungen von Michael Köhlmeier, 31.12.2019; br.de/mediathek/video/mythen-amor-und-psyche-av:5e09ba8a9b4c5d001a282b1f; Stand: 26.01.2020 Weil sie als Göttin verehrt wird, wird sie nicht wie ein Mensch behandelt und darunter leidet sie.17Interpretation der Verfasserin Andere Menschen interessieren sich gar nicht für sie als Mensch, sondern ausschließlich für ihre Schönheit, von der zwar gemeint wird, sie sei „göttlich“, die letztlich aber ein Attribut ihres menschlichen Körpers ist. Psyches Leiden (bevor sie in die Liaison mit Amor verstrickt wird und noch viel größere Leiden erfährt) könnte somit als Leiden an der Reduktion auf einen schönen Körper gedeutet werden, auf den Körper als Objekt, als leibhaftiges Götzenbild. Folglich wäre es nur allzu verständlich, wenn Psyches „Körper […] sich jenseits des Körpers wünschte“.
Allerdings ergibt sich in dieser Auffassung ein bedeutender Widerspruch zur Darstellung Borbélys. Anstelle des Leidens am Objektsein wird in seinem Gedicht das Genießen des Objektseins behauptet, nämlich des Objektseins im Kontext von sexualisierter Gewalt, ferner Sexualität, womöglich sogar Liebe, mit der Amor als Liebesgott unweigerlich in Verbindung gebracht werden muss.
Wenn man sich noch mehr als ohnehin schon verrenken wollte, könnte man sagen – und das sind jetzt wirklich nur noch hermeneutische Spekulationen: die Seele genießt bei Borbély nicht wirklich das Objektsein, sondern vielmehr, dass sie dem Objektsein entkommt und zwar indem sie ihren Körper selbst als Objekt erfährt, als etwas von ihr getrenntes, also etwas, dass nicht (mehr) gleichbedeutend mit ihr selbst, der Seele18Der Begriff „Seele“ gilt im modernen philosophischen Diskurs eigentlich als überholt (genauso wie die Vorstellung einer Leib-Seele-Dichotomie). Ich verwende ihn dennoch, da in Borbélys Gedicht ebenfalls von der „Seele“ gesprochen wird., ist. Uff…
Das ändert jedoch nichts an der Art, wie es zu dieser scheinbar befreienden Trennung von Körper und Seele kommt. Letztere erfolgt schließlich erst dadurch, dass der Körper, zu dem die Seele gehört, von einer destruktiven Sehnsucht nach Liebe und ihren realen Ausschreitungen zu Grunde gerichtet wird: im Akt der Vergewaltigung. Nur so wird sie frei und das ist folglich ihr eigentlich erstrebenswerter Zustand: die Freiheit, die der Tod ist, durch den Mord und die Vergewaltigung. So weit, so brutal.
In der ursprünglichen Erzählung von Amor und Psyche stirbt Psyche nicht am „Verkehr“ mit Amor. Stattdessen fällt sie in einen „todesähnlichen Schlaf“19de.wikipedia.org/wiki/Amor_und_Psyche; Stand: 26.01.2019., aus dem der Liebesgott sie später wieder erweckt (dadurch, dass er ihn „mit seinen Flügeln“ verscheucht).20Vgl. ebd. Der Schlaf ist die Folge einer List der Venus, unter deren Zorn Psyche (ebenfalls) zu leiden hat. Die Göttin der Schönheit und Fruchtbarkeit neidet Psyche ihre Schönheit und den Kult, der um Letztere entstanden ist. In Folge dieses Kults wenden sich die Menschen Psyche zu und verehren sie, anstelle ihrer. Am Anfang vieler solcher Listen steht die Absicht Venus‘, Psyche mit einem Ungeheuer zu vermählen. Amor (ihr Sohn) soll dafür sorgen, dass Psyche sich in dieses verliebt. Aber Amor verliebt sich selbst in die Schönheit Psyches, hat Mitleid und nimmt sie zu sich in seinen Palast, in dem er sie, sobald Schlafenszeit ist, aufsucht, usw. Psyche bekommt ihren Liebhaber dabei nie zu Gesicht – es ist ja immer dunkel, wenn er sie beehrt – und darf ihn auch gar nicht zu Gesicht bekommen. So will es Amor. Irgendwann möchte Psyche aber doch wissen, wer da allnächtlich zu ihr ins Bett kriecht. Die Schwestern haben sie verunsichert und nun fürchtet die junge Frau, sie würde es tatsächlich mit einem Monster treiben. Eines Nachts, Amor schläft schon, hebt sie eine Lampe über ihn, erblickt den schönen Gott und lässt vor Schreck einen Öltropfen auf seine Haut fallen. Amor erwacht und verschwindet – bis auf Weiteres.21Vgl. ebd
Auf dieses letzte Ereignis, das Nitzschke als Zerstörung der Liebe durch das „Verlangen der Psyche, die Liebe zu vergegenständlichen“22Vgl. 12 begreift, scheint Borbélys Gedicht in dem unschönen „Dialog“23Vgl. S. 5; ,Auf den Flügeln der Freiheit‘ ab „Wer bist du?“. zu rekurrieren: Weil Psyche nicht stillschweigend hinnimmt, sich weiterhin von einem „Unbekannten“ „vergewaltigen“ zu lassen, verlässt Amor sie.
[ v. ]Hätte Borbély mit ,Auf den Flügeln der Freiheit‘ die Freiheit der Seele durch den Tod und das „Verschwindenlassen des Körpers“ poetisch ausdrücken wollen, ein Verweis auf jenen tödlichen Schlaf, hätte durchaus genügt. Auch die Interpretation als Vergewaltigung wäre in diesem Kontext nicht weniger plausibel. Dass Borbély die Vergewaltigung aber in einer Weise „einsetzt“, die sie gleichsam als Mittel der Befreiung erscheinen lässt, ja, als Genuss, das bleibt schlussendlich das Moment, an dem alle Verrenkungen definitiv ihren Sinn verlieren. Es stellt sich die Frage: Gibt es in diesem Gedicht überhaupt einen Sinn? Oder doch nur „Stumpfsinn“? Ist es nichts weiter als perverse Männerfantasie, gewissermaßen eine intellektuelle Wichsvorlage?
„Denn die Sprache ist wie die Nacht. Feuchtes,
unergründliches Geräusch. Pures Grauen und
formloses Geschrei der Eingeweide. Unmenschlich.“24XXXI. Auf den Flügeln der Freiheit (letzte Strophe); Leichenprunk
(Die Betonung liegt auf dem letzten Wort.)
Auf jeden Fall kommt man nicht umhin, anzunehmen, dass diesem Text (und möglicherweise auch weiteren) eine misogyne Haltung des Autors zugrunde liegt. Dies alles einfach nur unter Stumpfsinn zu verbuchen, oder erst recht, es lediglich als ästhetischen Ausrutscher zu betrachten, hieße dagegen, den Ernst der Sprache zu unterschlagen, in vielerlei Hinsicht; d.h.: vor allem in puncto Sexismus und Moral, aber auch bezogen auf so etwas wie Poetik.
An dieser Stelle könnte man eine lange Debatte über Ethik und Ästhetik führen: Wie weit darf Kunst gehen? Was ist Kunst und wo endet sie? Inwieweit darf sie die Moral vergewaltigen? Welcher Umgang mit Kunst (Literatur eingeschlossen) ist der „richtige“, zumal wenn sie, wie hier, soviel Schönes und doch solche Untiefen aufweist?
Ich belasse es dabei. Mit Sicherheit ist es aber eine Sache, über Vergewaltigung literarisch zu schreiben, eine andere, es in dieser Form zu tun (und unkommentiert stehen zu lassen). Ein Text, der sich derart über sexualisierte Gewalt äußert, sie ästhetisiert und verharmlost, ist eben nicht nur ein Text, sondern die Botschaft, dass Ähnliches „okay“ sei. Die Folge könnte eine Normalisierung, nicht nur bestimmter (schriftlicher) Ausdrucksweisen, sondern eben auch etwaiger Handlungen darstellen.
Man wende es, wie man wolle, die Worte, den Sinn: Es ist nicht leicht, diesem Gedichtband „gerecht zu werden“. Und vielleicht ist auch schon allein der Ansatz, ihm gerecht werden zu wollen, falsch.
In Borbélys Leben gab es Abgründe, das steht außer Zweifel, und dass sich dies letztlich in der Psyche wie dem literarischen Schaffen des Autors niederschlug, ebenfalls. Ob Leser_innen, zugunsten des Schönen über die Abgründe hinwegsehen mögen, ob sie die Koexistenz beider Aspekte tolerieren, oder eben nicht, das bleibt im vorliegenden Fall einer persönlichen
Entscheidung überlassen. Da es jedoch im Bereich der Künste viele ähnlich prekäre (sowie noch prekärere) Fälle gibt und dementsprechend viele Debatten geführt werden, scheint ein Bedürfnis nach klareren Antworten in der Gesellschaft (zumindest in Teilen) vorhanden – obgleich es vielleicht niemals gestillt werden kann. Die Diskussion darüber ist jedenfalls unerlässlich.
In Bezug auf Schönheit lässt sich die banale Erkenntnis festhalten, dass sie immer nur als Kehrseite des Hässlichen, „Abgründigen“ existiert. Dass beides, das Schöne wie das Hässliche, allerdings häufig auch nebeneinander, gewissermaßen ineinander verwachsen, wie ein Zwillingspaar mit Doppelfehlbildung, auftritt, dafür scheint Borbélys Lyrik ein geradezu exemplarisches Beispiel zu sein.
Nachwort
Um nun ein für allemal zum Ende zu kommen: Diese Gedichtsammlung ist alles andere als leichter Stoff. Wer sie trotzdem liest, muss sich bewusst machen, dass er bzw. sie es hier auf keinen Fall mit „Wohlfühl-Lyrik“ zu tun hat, was auch immer das ist. Borbélys Lyrik taugt weder zur Entspannung, noch erlaubt sie ein ungestörtes Schwelgen in der Schönheit ihrer sprachlichen Bilder – obwohl es Letztere zuhauf gibt. Im Gegenteil, dieses Buch ist (streckenweise) eine echte Tortur und das, wie es scheint, mit voller Absicht. Entweder (1) man legt es irgendwann (Krampf im Kopf) fort, übergibt sich und wechselt zu zuträglicherer Lektüre, oder (2) man wirft sich eine Paracetamol* ein, bleibt in gutem Kontakt mit Wikipedia* & Co. und steht es auf Gedeih und Verderb durch. Leser_innen, die sich gemäß Vorschlag 2 verhalten, werden Schmerz und Freude als Zwillingspaar mit Doppelfehlbildung begegnen – garantiert! Daher meine persönliche höchst schizophrene Meinung: Es lohnt sich, aber…
*Es handelt sich hier um Schleichwerbung.