[ Epilog I. ]
Herausgegeben und aus dem Ungarischen übersetzt von Heike Flemming.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
201 Seiten; 24 Euro
[ Allegorie III. ]
Zunächst eine kleine Warnung: an alle Zarten: hier werden (u.a.) Themen1Themen sind Mord, Suizid, Depressionen und Vergewaltigung. besprochen, die wenig zärtlich sind; und an alle, die trotzdem weiterlesen: Was folgt, ist ein Versuch, ein Stammeln, ein Armerudern und Wortgewedel. Es wird um Herausforderung und Überforderung gehen, im Subtext, wie im eigentlichen.
Berlin Hamlet
„Ich habe kein Zuhause,
ich tausche die Stationen meines Wanderns gegen Worte.
Ich bin nicht frei, solange das Versteckspiel meiner Rede
Missverständnisse gebiert.“ (26. [ Fragment VI. ]; [ i. ])
Berlin um die Jahrtausendwende: Scheinbar ziellos wandert ein Ich in der tristen Hauptstadt umher, durch den Tiergarten, die Hermannstraße, am Flughafen Schönefeld vorbei. Auf seinem Weg stellt es allerlei Beobachtungen an, zumeist beobachtet es aber nur die eigenen Gedanken. Es sucht, es verliert sich, oder hat sich bereits verlorenen, im Außen, wie im Innen seiner Sprache.
Hätte man es anstelle von Lyrik mit einer Erzählung zu tun, wäre dies wohl grob die Handlung von Szilárd Borbélys ,Berlin Hamlet‘2Erschien im ungarischen Original 2003, dem ersten Teil des gleichnamigen Gedichtbands. Er besteht aus einem dichterischen Streifzug auf den Spuren Franz Kafkas und Walter Benjamins, ein bisschen was von Wim Wenders „Der Himmel über Berlin“ (1983) meint man ebenfalls darin auszumachen. Shakespeare darf natürlich auch nicht fehlen. Sein tragischer Held Hamlet, nun also in Berlin. Zumindest könnte man es auf diese Weise lesen. Nebenschauplätze bilden sogenannte ,Fragmente‘, ,Epiloge‘, ,Briefe‘ und ,Allegorien‘, die in Ergänzung zu Ortsnamen, wie eben ,Tiergarten‘, titelgebend für die einzelnen Gedichte sind.
Was alle Gedichte eint, ist ein Grundton von Verlorenheit, ein Fremdeln. Mehr als die Fremde des Orts macht dem lyrischen Ich dabei eine allgemeine Fremdheit zu schaffen, nicht zuletzt hinsichtlich der eigenen Existenz. Hamlets Frage nach dem Sein oder Nichtsein stellt sich, mal direkt, mal indirekt, in nahezu jeder Zeile. So verkündet das lyrische Ich an einer Stelle den Wunsch zu verschwinden, ohne aber zu sterben, d.h. ohne körperlich existiert zu haben, also ohne:
„Alles, was damit einhergeht: dass die Schließmuskeln erschlaffen und alles auseinanderfließt, was bis dahin der Krampf des Selbstbewusstseins zusammenhielt.“ (15. [ Hermannstraße ])
Es sind Formulierungen wie diese, die Borbélys Sprache Nachdruck und Tiefe verleihen und natürlich ihre Düsterkeit. An anderen Stellen gelingt es dem Autor durch bildhafte Alltagsbeobachtungen, auch scheinbar Gewöhnlichem sein Unheilvolles zu entlocken. Da starrt „[z]wischen den Falten der Kleidung […] / ein Gesicht heraus, wie das verachtete Gesicht Europas“ 336. Alexanderplatz; Berlin Hamlet und „Marktweiber“ gebären „die Ware: Beeren, Schaltiere, / Pilze, Klumpen von Fleisch und Kohl“431. Magdeburger Platz; Berlin Hamlet. Über derlei Beschreibungen vergeht also niemals das Bewusstsein des Verharrens im Zwiespalt, das doch eher dem Nicht als dem Sein zugewandt scheint.
[ Fragment II. ]Leichenprunk und Nebenstränge eines Verbrechens
[ i. ]Der Tod kommt dann letztlich dennoch sehr „körperlich“ und zwar im zweiten Teil des Buches, ,Leichenprunk‘5Erschien im Ungarischen Original 2004 bzw. in erweiterter Fassung 2006.. Das Lesen dieses Gedichtzyklus‘ stellt gewissermaßen eine Art absurder Sterbebegleitung dar, eine, bei der die Leserin* jedoch nichts für den Sterbenden tun kann, die sie selbst nur aus der Querschnittslähmung ihrer Leser_innenposition heraus verfolgt: aktiver Kopf, passiver Körper, Phantomschmerzen. Sie schaut lediglich beim Sterben zu. Daran findet sie entweder Gefallen, oder fühlt sich abgestoßen, oder beides, bestenfalls beides.
* Ich verwende an dieser Stelle die weibliche Form, schließe darin aber auch alle Zugehörigen anderer Geschlechter ein.
Es deutet sich vielleicht bereits an: dieses Buch kann eine moralische Herausforderung darstellen, eine intellektuelle ohnehin. Es hilft, sich mit Geschichte auszukennen, mit Mythologie, Religion und natürlich Literatur. Am besten man hat (wie Borbély) etwas davon studiert oder gleich alles. Ist das nicht der Fall, kann immer noch das Internet befragt werden. Das liefert in den ersten drei Bereichen Antworten, im letzten wird es etwas schwieriger, weil es da u.a. um Dinge wie Komposition, historische Formen von Lyrik etc. geht.
Borbély bedient sich in ,Leichenprunk‘ in weiten Strecken eines barocken bzw. mittelalterlichen Stils. Laut Nachwort der Übersetzerin Heike Flemming kommt „dabei vor allem die äußerst vielfältige mittelalterliche Sequenz“ zum Einsatz. Einige der Gedichte sind daher in Reimen verfasst. Ihre Sprache ist voller Pathos, etwa in Versen wie:
„Die Ewigkeit ist kalt
wie die Klinge,
mit der man schnitzt
Jesu Antlitz.“ (Aeternitas; (I))
Insgesamt wird sich ein Zugang zu, bzw. ein „Gefühl“ für diese Gedichte, vermutlich nicht ohne Weiteres bei jeder Leserin einstellen. Aber manche Gefühle muss man vielleicht studiert haben, um sie zu empfinden (oder eben nicht).
[ ii. ]Die Empfindung anderer Gefühle lässt sich wiederum kaum verhindern. Sie entstehen etwa dann, wenn Leser_innen im Verlauf der Lektüre immer wieder auf bestimmte Themen stoßen: die Shoa, die Kreuzigung Jesu, Mord und Totschlag aller Art, konkret ein Gewaltverbrechen an Borbélys Eltern.
Bei einem Einbruch in der Nacht zu Weihnachten 2000 hatten mehrere Männer sie im eigenen Haus brutal niedergemetzelt. Die Mutter starb, der Vater erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Ihr Fall wurde nur sehr nachlässig aufgearbeitet, bis er irgendwann zum Erliegen kam. Dieses Ereignis war Anlass für die Entstehung des Gedichtzyklus‘ ‚Leichenprunk‘. Borbély wollte seinen Eltern hierin ein Denkmal setzen. In ‚Nebenstränge eines Verbrechens‘ 6Erschien im Ungarischen Original 2007., welches Letzterem nachgestellt ist, dokumentiert er seine eigene Auseinandersetzung mit den Akten des Falls. Dies geschieht schonungslos und passagenweise werden auch schon mal Details aus Obduktionsberichten zitiert. Trotzdem lässt gerade dieser Teil noch auf einer anderen Ebene als der Brutalität nicht unberührt. Er bedeutet letztlich die gnadenlose Bloßstellung des Autors selbst. Sein Trauma und die Demütigung werden in einer Weise veranschaulicht, die beklemmend ist und keinen Zweifel darüber lassen kann, wie es einem Menschen in ähnlicher Lage Stück für Stück den Boden unter den Füßen wegreißt.
„Dann begann er zu stürzen, nach innen, hinein in seinen Körper. Er spürte die greifbare Finsternis, spürte das immer schnellere Tempo des Sturzes. Eine unbekannte Tiefe öffnete sich unter seinen Füßen, die ihn in sich hinein riss, irgendwo hinunter. Hinunter in den Körper.“
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Perspektive des personalen Erzählers, trotz des vermeintlich autobiografischen Inhalts. Eine mögliche Begründung für diese Wahl findet sich in Passagen wie:
„Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Er sah sich von außen, wie einen Fremden. Jahre zuvor, tief in einer schweren Depression hatte er sich die Technik der Selbstdistanzierung angeeignet. Auch jetzt betrachtete er sich von außen, unabhängig von seinem Körper.“
Borbély litt jahrelang an Depressionen. 2014 nahm er sich das Leben.