Die Gebetsfahnen flattern im Wind, sie sind rot und gelb und grün und blau und hängen an pagodenförmigen Tempeln, die sich an die Flanken schneebedeckter Berge schmiegen, mitten im Himalaya. Weiter unten, im Mittelland, liegen die Städte mit ihren flachen Häusern aus gebrannten Ziegeln und Holz, dazu das lebendige Treiben auf den bunten Plätzen und überfüllten Straßen. Das ist Nepal. Zumindest die Postkartenvorstellung, die wir von Nepal haben. In Die Dunkelheit zwischen den Sternen baut uns Benjamin Lebert auf 300 Seiten die gedankliche Luftbrücke zwischen dieser Vorstellung und der unromantischen Realität.
Einer Realität, die aus den Ich-Perspektiven dreier nepalesischer Kinder erzählt wird. Kinder die, von ihren Familien verkauft, nun in einem heruntergekommenen Heim mit dem hoffnungsvollen Namen Recovery Home leben und die Dunkelheit nicht abschütteln können. Die Erinnerungen an Gewalt, Zwangsarbeit und Missbrauch. Da können ihnen auch die Brothers & Sisters von weither nicht helfen, aus „einem schönen, friedlichen Land, wo die Träume beschützt werden“. Denn sie verstehen nicht, wie es ist, wenn Tarun die Wut überkommt, wenn die Nacht ihn nicht loslässt. Wenn Achanda alles tut, um sich das Motorrad zu kaufen, mit dem er Shakti zu den blauen Hügeln bringen will, wo das Glück wartet. Oder wenn Shakti nichts anderes will als die Nähe des Brothers, der jedoch schon bald wieder nach weit weg zurückkehren wird.
Zwischen großen Wünschen und erschreckender Nüchternheit füllen die Worte der Drei die letzten neun Tage vor dem großen Erdbeben, das Nepal im Frühjahr 2015 erschüttert hat. Sie erzählen von der Housemother und Beaten Rice, vom ersten Mal Popcornessen und plattgewalzten toten Hühnern. Während der Countdown bis zu Shivas Erwachen immer schneller herunter tickt, finden sich zwischen den kurzen Sätzen immer wieder auch poetische Bilder. Zweifelhaft bleibt dabei nur, ob diese geschliffenen, mitunter philosophisch angehauchten Einschübe tatsächlich nepalesischem Kindermund entstammen oder ob sie nicht eher einer sorgsam gespitzten deutschen Schreibfeder entspringen. Sätze wie „Aber was ist das Glück für uns zwei, die wir kein Zuhause haben? Nur ein Recovery Home, das in einem winzig kleinen Moment auflebt. Nur dort und nirgends sonst.“, wirken wie auktorial gesetzte Fremdkörper im sonst unmittelbaren Gedankenfluss der Protagonisten.
Und am Ende? Am Ende stehen wir da. Es wehen keine Gebetsfahnen, da stehen keine bunten Städte.
Zumindest auf sprachlicher Ebene führt uns Leberts Luftbrücke also nicht allzu weit. Zumal Tarun, Achanda und Shakti nahezu im selben Ton sprechen. Aber auch wenn wir deshalb nicht ganz in Nepal, nicht ganz in authentischen Charakteren ankommen, sieht man dem Autor diese etwas musterartige Rollenprosa doch gerne nach. Das Lesenswerte nämlich steckt im zwar naiven, aber zugleich sehr detailgenauen Blick auf die fremde Welt. Ein Blick, der sich aus eigenen Erfahrungen speist. Wie wir im Nachwort erfahren, hat Lebert selbst bis kurz vor dem Erdbeben in einem Kinderhilfsprojekt in Kathmandu gearbeitet.
Und am Ende? Am Ende stehen wir da. Es wehen keine Gebetsfahnen, da stehen keine bunten Städte. Benjamin Leberts Luftbrücke führt uns, Zeile für Zeile, in ein Dazwischen, einen Ort, wo die Schwärze nur manchmal zurückweicht.
Benjamin Lebert: Die Dunkelheit zwischen den Sternen. S. Fischer, 2017. 304 Seiten.