Manchmal sehnen wir uns danach, wieder Kind zu sein. Die Welt ausschließlich sinnlich zu erfahren, nur zu spüren und zu schmecken, was uns über den Weg läuft. In einen reifen Pfirsich zu beißen und zu fühlen, wie der Saft an unseren Mundwinkeln herunter läuft. Manchmal sehnen wir uns danach, nur zu denken, was wir in genau diesem Moment denken müssen. An den „nächsten Schritt denken, an den nächsten Besenstrich“, zitiert der Andreas Kurz Michael Endes Beppo und nimmt uns mit auf eine Reise, auf eine Suche nach dieser Einfachheit. Zu Fuß – Schritt für Schritt.
Das Buch selbst ist eine Wanderung. Man braucht einen langen Atem. Manchmal muss man an hässlichen Straßen vorbei und schläft in grauen, charakterlosen Hütten. Manchmal geht man einfach nur stumpf den Weg entlang, um dann endlich ein Ziel zu erreichen: weite Landschaften und Licht, das durch die Baumkronen bricht. Die Wahrnehmung der Umgebung wird zur inneren Reise des Protagonisten in die Vergangenheit. Sein ganzer Körper erinnert ihn in Blitzen, der Bruder, der Großvater, dünne Erinnerungsfäden, die sich gleich wieder zu verlieren scheinen. Wir finden uns nicht nur wieder in den Erlebnissen, wir sind es selbst, die sich da erinnern, die da auch ein bisschen trauern um Vergangenes und die loslassen lernen müssen, ohne ständig zu fliehen. Immer weiter. Schritt, Atemzug, Besenstrich.
„Ich will die Erfahrung zurück, verstehst du? Meine eigene Erfahrung und mein Empfinden“, fordert der Protagonist. Das Buch funktioniert, wie es mit der Sehnsucht spielt, an die Wurzel der eigenen Erfahrung zu gelangen. Sich nicht als Teil einer Maschine zu begreifen, sondern als Baum, dessen Säfte man nicht treiben kann. Wir begleiten den Ich-Erzähler und Protagonisten von Wien nach Budapest. Zwei Städte, die in der Vergangenheit eng miteinander verbunden waren. Ebenso wie ein Teil der Bevölkerung die Erinnerung an diese Zeit, scheint auch der Protagonist seine parallelmotivisch arrangierte, gescheiterte Beziehung zu Irma zu glorifizieren. Die gemeinsame Geschichte ist noch nicht ganz abgeschlossen. Sie kommt schmerzlich wieder und wieder und er versucht sie mit aller Kraft zu vergessen, Irma und die Naturerlebnisse, die sie geteilt haben. Die Welt, die er durch sie erschlossen hat, keine verkopft-intellektualisierte, sondern eine der Sinnlichkeit, in der man die Dinge sich berühren lässt. Von Kurz‘ Beschreibungen bleiben wir dennoch eher unberührt.
Es ist, als beobachte man jemanden, der selbst nur beobachtet. In einer Meta-Ebene, die zu fern ist, um in den Text gesogen zu werden und sich mit dem Protagonisten zu identifizieren. Das spiegelt den herrschenden Zeitgeist. Zwar achtsam sein wollen, sich frei machen wollen vom gesellschaftlichen Leistungsdruck.
Und doch an der Realität scheitern, an Beschleunigung und Sinnsuche. Lieber von außen darauf zu blicken, zu analysieren. Da ist kein herausragendes Gefühl im Protagonisten, vielmehr ist er in einem Schwebezustand, findet sich weder niedergeschlagen am Zeltboden wieder, noch voller Euphorie in der Natur. Andreas Kurz malt ästhetische Bilder, mit denen er aber keine Geschichte erzählt. Er läuft weiter, jederzeit ein Ausweg bereit, er kann andere Wege einschlagen. Was ihm gelingt ist das Betrachten. Die Pfirsiche schmecken, den Schweiß spüren und die Sonne. Er will ausschließlich wahrnehmen, aber immer dann, wenn’s am schönsten ist, erinnert er sich. An seine zerronnene Liebe Irma, die ihm erst beigebracht hat, wie das geht, nur fühlen.
Andreas Kurz: Der Blick von unten durch die Baumkrone in den Himmel. Literaturverlag Droschl 2017. 256 Seiten.